von Hans-Martin Steffe
Die letzten eineinhalb Jahre habe ich mich viel mit dem Vaterunser beschäftigt. Sieben Mal habe ich in unseren Gottesdiensten zum Vaterunser gepredigt. Angefangen hatte es mit unserem Kurs von Stufen des Lebens: „Das Vaterunser – ein beinahe alltägliches Gespräch“. Eindrücklich ist mir präsent, wie wir das Vaterunser auf dem Boden ausgelegt haben. In der Mitte die Anrede an Gott den Vater in einer entfalteten Blüte aus gelbem Karton. Davon in Strahlen ausgehend sieben Blüten für die sieben Bitten des Vaterunsers. Drei gelbe Blüten für die DEIN-Bitten, eine rote für die UNSER-Bitte um das tägliche Brot, drei blaue Blüten für die UNSER-Bitten um Vergebung, Bewahrung vor Versuchung und Erlösung vom Bösen. Jede Blüte wurde gelegt und dann eine nach der anderen mit ihrer Bitte entfaltet.
Angestoßen hat mich eine Aussage zum Vaterunser von Matthias Claudius, dem Dichter des Abendlieds: „Der Mond ist aufgegangen“. Der schrieb:
„Je länger man das Vaterunser betet, desto mehr sieht man ein, wie wenig man es versteht
und wie wert es ist verstanden zu werden, um unbekannten Schätzen auf die Spur zu kommen.“
Das vielen noch von Klein an bekannte Gebet, das Jesus seinen Jüngern vorgesprochen hat, ist voller Überraschungen. Die entdecke ich, wenn ich mich mit ihm beschäftige. Zuallererst, wenn ich es bewusst in meinen Tag einbeziehe. Dreimal am Tag laden uns die Glocken unserer Kirche zum Beten des Vaterunsers ein. Morgens um 6 Uhr, mittags um 12 Uhr und abends um 19 Uhr. Ich halte beim Läuten der Glocken inne, unterbreche meine Arbeit und bete das Vaterunser allein oder gemeinsam.
Im Gottesdienst leite ich das Vaterunser ganz bewusst mit einer Hinführung ein. Die ist eine Abwandlung aus der alten Kirche in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt. Für die Alten war es alles andere als selbstverständlich, Gott als Vater anzusprechen oder gar in der Sprache eines kleinen Kindes als Papa, wie Jesus es in seiner Sprache getan hat: „Abba“.
Ich leite das Vaterunser so ein: „Weil Jesus es uns gelehrt hat, sollen wir wie Kinder zum ewigen, heiligen, verborgenen Gott beten voller Vertrauen.“ Das hat eine schöne Nebenwirkung: Wir beginnen das Vaterunser zu beten, wenn die Glocken zu läuten anfangen. Sonst ist es gut möglich, dass die Glocken erst dann beginnen, wenn wir unsere Bitte ums tägliche Brot sprechen. Martin Luther war das wichtig, dass wir das Vaterunser von vorne nach hinten beten, also mit den DEIN-Bitten beginnen vor allen Bitten um unser Wohl und Heil, uns dem zuwenden. Wir wenden uns zuerst den Nöten Gottes zu. Dietrich Bonhoeffer hat das aufgenommen in seinem Gedicht aus dem Gefängnis als Widerstandskämpfer gegen die NS-Diktatur: „Christen und Heiden“.
Vor allem mit der zweiten Strophe: „Menschen gehen zu Gott in seiner Not.“
Die intensive Beschäftigung mit dem Vaterunser hat mich wieder neu die Kommentare zu Luthers Katechismen meines theologischen Lehrers Albrecht Peters studieren lassen. Der dritte seiner fünf Bände beschäftigt sich mit dem Vaterunser. Was wollte Jesus damit anstoßen, ist die Grundfrage. Welche Auslegungsgeschichte das Vaterunser in der alten und in der mittelalterlichen Kirche hinterlassen hat, zeigen die Auslegungen auf. Im Zentrum stehen die schrittweisen Entdeckungen Luthers zum Vaterunsers. Das Anliegen Jesu muss bewahrt bleiben und ernst genommen werden. Im Vaterunser geht es um Gottes endgültiges Kommen in seine Welt. Aber weil das in seiner Endgültigkeit seit 2000 Jahren noch nicht geschehen ist, brauchen wir das Vaterunser auch in unserem alltäglichen Leben. Es will uns die nötige Ausrichtung auf das Wesentliche geben und uns davor bewahren uns im Oberflächlichen und Äußerlichen zu verlieren. Die Entdeckungen Luthers beim Vaterunser benennt Peters in fünf Aspekten. Vereinfacht:
- Wir sollen das Vaterunser beten, weil Gott es uns geboten hat, so zu beten.
- Das Vaterunser hält die Verheißung wach, dass Gott unser Beten erhört.
- Hätte Jesus ein besseres Gebet gewusst, hätte er es uns beigebracht.
- Im Vaterunser sind alle unsere elementaren Nöte aufgehoben. Sie werden genannt.
- Das Vaterunser ist ein Kampfgebet gegen die Macht des Bösen.
Mich haben der vierte und fünfte Aspekt Luthers umgetrieben. Die Macht des Bösen ist durch die Aufklärung nicht weg zu diskutieren. Sie ist mit Händen zu greifen. Sie wird uns tagtäglich in den Medien vor Augen gehalten. Aus Angst und fehlendem Vertrauen wird rücksichtslos das eigene Anliegen in den Mittelpunkt gestellt. Die Sorge um die anderen, vor allem derer, die Schlimmes erleben, der Schmerz der Leidenden wird verdrängt. Die Sorge um uns selbst wird zum Zentrum des Redens und Handelns. Das sehen wir in der großen Welt, in den mörderischen Kriegsgebieten, in der Ukraine, im Gaza und in so vielen anderen Regionen der Welt. Aber das hinterlässt auch Spuren in unserer Gesellschaft. Respekt und Rücksicht sind bedroht durch Verrohung der Sprache und des Tuns. Die Macht des Bösen wird in der griechischen und lateinischen Sprache so ausgedrückt, dass es neutrisch verstanden werden kann oder auch maskulin. Also wie eine Sache oder wie eine Person. Für Luther stand hinter aller Macht des Bösen eindeutig der Böse, der Satan, der Widersacher Gottes. Der aber besiegt ist durch Jesu Hingabe am Kreuz aus Liebe zu uns und durch seine Auferweckung und Bestätigung des himmlischen Vaters. Das Böse und der Böse haben nicht das letzte Wort, aber wirken noch immer. Darum entspricht der dringlichen Bitte: „Dein Reich komme“ die flehentliche Bitte: „Und erlöse uns von dem Bösen“.
In den Predigten der sieben Bitten hat mich der vierte Aspekt der Erkenntnisse bei Luthers Kommentaren bewegt. Welche Nöte treiben uns um? Was macht Leben und Glauben schwer. Wie bewahren uns die sieben Bitten vor Verzweiflung, Verbitterung und Versteinerung? Wie können wir lebendig und fröhlich und zuversichtlich bleiben angesichts der Widersprüche und Ängste, denen wir ausgesetzt sind? Ich habe mit anderen zusammengetragen, was uns anficht. Da kommt alles in den Blick. Die große Weltlage und mein kleines persönliches Leben. Angst vor Krieg, Bürgerkrieg und Angst vor Krankheit und Tod. Versagen und Schuld im Miteinander heute und in unserer deutschen Geschichte.
Angst vor zu vielen Fremden und vor Fremdenphobie. Zu jeder Not, die uns bedrängt versuchten wir die eine oder andere Bitte zu finden, in der diese Not aufgenommen und vor Gott ins Gebet genommen wird. Erstaunliche Entdeckungen machten wir. Wirklich jede Not findet in der einen oder anderen Bitte des Vaterunsers eine Verortung.
„Das Vaterunser ist das Gebet, dass die Welt umspannt“, schrieb der evangelische Theologe Helmut Thielicke vor 70 Jahren. „Das Vaterunser ist das Evangelium in allerkürzester Form“, schrieb schon vor 1800 Jahren der Kirchenvater Tertullian. Das Vaterunser will unser Leben auf Gott ausrichten. In einer Zeit der Gottvergessenheit erinnert uns das Vaterunser an den, von dem wir alles Leben erhalten haben, der uns durch alle Nöten hindurch erhalten kann und der uns der Macht des Bösen entreißt, der Sünde, dem Tod und dem Teufel. Wir sind gehalten, wenn wir uns an den halten, um dessen neue Entdeckung wir in unserer Zeit bitten. So wie das Vaterunser in passiven Wunschbitten beginnt:
„Geheiligt werde dein Name, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe“.
Ein Erlebnis mit dem Vaterunser eigener Art hatte ich vor einigen Wochen beim Besuch des alten Künstlers, Malers und Erzählers Gérard Lattier. Er nahm mich als erstes mit in seinem Haus zur Staffelei und zeigte mir sein eben vollendetes, letztes Alterswerk mit fast 87 Jahren. Ein Bild zum Vaterunser. Und er betete das Vaterunser in seiner Sprache, auf Französisch. Das hat mir Lust gemacht das Vaterunser in den Sprachen zu lernen, die ich gelernt habe.
Mit dem Vaterunser will ich unterwegs bleiben, bis ich gehen werde zu dem, dem das Reich ist und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.